Deutscher Reisebericht Island 2009
Riding the Bullet - to Iceland
Ein Reisebericht von Karin Eibenberger
Erstmals erschienen in "MotoFoto" März 2011
Wir sitzen unter einem jener sagenhaften Himmel am Ende der Welt wegen derer allein es sich schon lohnt, eine Reise hierher zu unternehmen. Es ist die Zeit der Herbststürme auf den Färöischen Inseln. Ein Nordatlantiktief treibt kalte Luftmassen von Neufundland oder Grönland mit Windgeschwindigkeiten von 25 Metern pro Sekunde heran und uns bleibt nichts anderes übrig, als dieses Tief abzuwettern, im Schutz einer zarten Gore Tex Membran und müde.
Die Fähre, die uns eigentlich non-Stop von Island nach Dänemark bringen sollte, liegt gut vertäut im Hafenbecken von Tórshavn zwischen bunten, zweigeschoßigen Holzhäusern, und wirkt wirklich wie ein Koloss aus Stahl im Vergleich zu den kleinen und traditionell offenen Fischerbooten, die ebenfalls auf einen besseren Himmel warten. Für die kommende Nacht wurde ein Abflauen des Sturms vorhergesagt und die Abfahrt der Fähre für irgendwann am späteren Abend angesetzt, aber es dauert wie gewöhnlich länger. Wir hätten somit mein gerissenes Kupplungsseil in Gjógv, einer kleinen Siedlung voller Postkartenmotive auf Eysturoy, im hintersten Winkel der Färöer, gar nicht im Rally-Stil und in voller Montur reparieren und die armen Motorräder danach auch nicht so über die schmalen Straßen jagen müssen. Jetzt stehen sie noch ganz heiß im Windschatten eines Land Rovers, der auch aufs Einschiffen zu warten scheint. Das Wetter lässt eher Tote aus dem Meer auferstehen als dass es eine arme Seele nach draußen treibt, und so sind wir allein am Hafen, während sich der nächste dichte Regenschleier langsam nähert. Wir haben also Zeit und lassen die vergangenen Wochen in der Erinnerung erneut aufleben: es sei eine Erzählung von Liebe und Leidenschaft.
Als ich vor mehr als zehn Jahren meinem jetzigen Mann klar gesagt habe, er wird mich immer mit der Welt der Literatur teilen müssen da sie meine wahre Liebe ist, habe ich strenggenommen gelogen. Selbst die größten Autoren habe ich mit einer kleinen indischen Dame britischer Herkunft mit viel Charme und dem Wesen einer Diva betrogen: meiner Royal Enfield Bullet 500, Modell „Austro Classic“, was für den Kenner heißt: puristische Technik aufs absolute Mindestmaß reduziert. Ein Zylinder, zwei Ventile, eine Duplex-Trommelbremse zum Fürchten, ein Kickstarter, der den Eintopf eigentlich immer auf den ersten Kick zu beleben vermag – außer in absoluten Notsituationen und vor Publikum – und ein Frontscheinwerfer der eine Lichtleistung liefert wie bei anderen Motorrädern das Standlicht. Royal Enfield ist aber auch ein Synonym für einen herzerwärmenden Klang - besonders mit Sportauspuff - für stilechte britische Motorradkultur der 50er mit dem schwarz-glänzenden Lack und dem golden handlinierten Tank und Enfield steht auch für Robustheit und Zuverlässigkeit. Pannen lassen sich meist schnell, unkompliziert und gänzlich ohne Laptop und Diagnosegerät beheben und das Motorsteuergerät wird durch ein gutes Ohr und das „gewisse Gefühl im Arsch“ ersetzt - wie der Enfield-Händler unseres Vertrauens zu sagen pflegt. Soviel zum Thema Liebe.
Da Motorräder nicht zum Anschauen gebaut sind, sondern um gefahren zu werden, war bald klar, dass wir unseren Enfields die Welt zeigen wollen. Und damit zur Leidenschaft. Darüber, dass Reisen mit dem Motorrad sowieso eine ganz andere Art ist, ein Land zu entdecken, und eine viel intensivere und leidenschaftlichere Art zu leben, darüber brauche ich wohl kein Wort zu verlieren. Die erste Reise führte uns nach Schottland, weitere folgten, und nun, wir schreiben den 22. August 2008 heißt es wie schon so oft zuvor: „Ladies and Gentlemen, start your engines“, und nach nur einem Kick ist das Zuhause in Waidhofen schon beinahe vergessen, kein Blick zurück und auf nach Wien, zum Autoreisezug, der uns nach Hamburg bringt.
Der Hamburger Kaffee ist zwar nicht geeignet, die Müdigkeit nach einer langen Nacht ordnungsgemäß zu bekämpfen, aber er ist besser als gar kein Kaffee und hilft, die Zeit bis zur Entladung der Maschinen zu vertreiben. Hamburg selbst gibt sich hanseatisch bedeckt und das Wetter sollte ein Vorbote dessen werden, was noch kommen wird. Kaum erreichen wir den Stadtrand beginnt es aufs heftigste zu schütten und die Straßen werden erstaunlich glatt, offensichtlich der erste Regen seit langem. Der Regen wird immer heftiger und in den Spurrillen der Straßen fließen schon Bäche, aber die Heidenau Reifen sind genau das Richtige und grundsätzlich wäre die Fahrt auch kein Problem wenn die Bremsen nur ihren Dienst verrichten würden. Mittlerweile ist jedoch so viel Wasser in die vordere Trommel gelangt, dass von Bremswirkung keine Rede mehr sein kann und ich schon Angst habe, den Bremshebel oder das Seil abzureißen. Vor einem stark frequentierten Kreisverkehr bleibe ich nur mit Mühe stehen.
Bei zehn Grad und Dauerregen sind einige Stopps notwendig, um wieder ein Gefühl in die tauben Finger zu bekommen, und der Kaffee wird Richtung Norden auch immer besser, bis wir schließlich in Dänemark ankommen, wo wir die erste Nacht noch unter Regenschauern verbringen. Der nächste Tag bringt strahlenden Sonnenschein und das nasse Gore Tex trocknet wunderbar während wir an alten Kros und strohbedeckten Backsteinhäusern vorbeifahren.
Wir haben im Moment nur eine vage Vorstellung unserer Reiseroute, unser Ziel ist Bergen in Norwegen, dorthin trennen uns eineinhalb Liter Motoröl, etliche Liter Kaffee und eine kaputte Isomatte.
Wir fahren über Puttgarden nach Køge und am nächsten Tag unter schnell vorbeiziehenden Wolkenfetzen und königsblauem Himmel weiter über Kopenhagen nach Helsingør und schließlich per Fähre nach Helsingborg, nach Schweden, und immer weiter nach Norden die schwedische Schärenküste entlang bis zum kleinen Dorf Åsa. Die Landschaft ist so, wie man sich das Skandinavien von Ikea vorstellt: weite, hügelige Gebiete, strahlend gelbe Kornfelder bis zum Blau des Himmels und immer wieder dichte Wälder mit falunroten Häusern und moorbraunen Seen dazwischen. Die Küste hingegen zeigt sich wild zerklüftet, mit zahlreichen Inseln die noch auf ihre Entdeckung warten und ab und zu sieht man ihn hier: den Traum vom kleinen Haus auf der eigenen Insel, der zur Wirklichkeit wurde. Fjällbacka ist ein Dorf an der Schärenküste, das aus einem schwedischen Disneyfilm stammen könnte, wir aber müssen weiter und um die Ecke treffen wir einen Inder, einen Sales Manager im feinsten Designeranzug. Als er unsere Enfields sieht, fällt er vor ihr auf die Knie um auch jedes Detail betrachten zu können. In Indien ist die Enfield immer noch das Prestigemotorrad schlechthin, und auch für ihn ist sie die ganz große Liebe.
Eher zufällig erwischen wir die Fähre von Strömstad nach Sandefjord in Norwegen und ersparen uns damit die Navigation durch das verkehrstechnisch gesehen chaotische Oslo. Es ist unser zweiter Besuch in diesem fantastischen Land, doch im Moment gilt es, einen geeigneten Übernachtungsplatz zu finden. Es ist bereits stockdunkel, aber die Straßenkarte verzeichnet einen Campingplatz unweit der Fähranlegestelle. Der Weg dorthin führt über eine Schotterstraße, die aus zwei tiefen Fahrrillen besteht – grundsätzlich das perfekte Motorradgelände, nur sehen wir nicht viel davon. Das Bollern der Maschine hat ein Schneehuhnweibchen aufgeschreckt, das jetzt wild flatternd vor meinem Motorrad herläuft. Erst als ich ihm klar sage, dass die Straße mir gehört und ich zum Äußersten bereit bin, hüpft es ins dichte Gebüsch, wo es aber steckenbleibt und rücklings wieder runterfällt, die Beine in der Luft nach Halt suchend. Ich dränge mich am aufgebrachten Huhn vorbei und wenig später erreichen wir den Zeltplatz, wo ich die etwas stürmische Nacht auf einem Kiefernzapfen verbringen werde.
Die folgenden Tage fahren wir zuerst über breite, unendlich lange Straßen, an Elchwarnschildern vorbei und erreichen schmale, unendlich lange Straßen und dichte, dunkle und feuchte Wälder. Hin und wieder kommen selbst Norweger nicht umhin, Kurven zu bauen, und einer jeden Kurve geht eine lange Vorfreude voraus. Spaß machen vor allem die Wellblechkurven, die hier in Asphalt ausgebildet sind – irgendwo zwischen den unendlichen Wäldern, Weiten, Sümpfen, Mooren und Seen von Südnorwegen. Es herrscht das Jedermannsrecht und wildes Zelten ist hier nahezu überall möglich. Doch seit sich die Meldungen von Eisbär-Besuchen auf Island immer mehr häufen – übrigens weniger eine Folge der Klimaerwärmung als vielmehr Folge der Verschmutzung der arktischen Biosphäre - hat Bernhard, mein lieber und starker Mann, eine ausgesprochene Bärenphobie entwickelt und ist sich auch ganz sicher, dass das Rentier, das uns vor einigen Jahren einmal Nachts beim Zelt besucht hat, ein mächtiger Bär oder einer der legendären Vielfraße gewesen sein muss und wir damals haarscharf dem Tode entkommen sind. So liegt er nun nachts im Zelt und lauscht nach Ungeheuern im knackenden Geäst.
War die Landschaft in Südnorwegen bis jetzt eher von tiefen Wäldern geprägt, wird sie nun von Ölnachfüllen zu Ölnachfüllen grandioser. Wir erreichen die fantastische Fjordlandschaft Norwegens Südwesten und fahren den Nordsjøvegen Richtung Norden. Die engen, steilen Passstraßen voller Kurven sind eine wirkliche Freude, und die Straßen sind griffig. Je großartiger die Landschaft wird, desto mehr fahren wir in die Wolken, ich ahne schon das, was da kommt und öle noch einmal sorgfältig auf einem Rastplatz meine Bowdenzüge (sie schreien schon danach), ehe wir direkt ins Zentrum einer schwarzen Sturmfront fahren, die vom Meer her kommt und uns bis Stavanger begleiten wird. Die nächsten Tage scheint es, hat das Wetter seine Energien verbraucht, denn es herrscht strahlender Sonnenschein und wir fahren der Küste entlang bis nach Bergen. Sonne in der Regenhauptstadt Norwegens, und meine Kette, die dringend gespannt werden will, schockt die Stadt. Es ist Samstag kurz vor Ladenschluss. Eine Schnitzeljagd, nein, vielmehr eine Odyssee von homerischen Ausmaßen treibt uns durch Bergen um einen Gabelschlüssel zu besorgen, der groß genug ist um die Mutter vom Hinterrad zu lockern – denn so gut man sich auf eine Reise auch vorbereitet, irgendwas fehlt immer, Murphy wird das bestätigen.
Beim Warten auf die Ankunft der Fähre Norröna lernen wir ein paar nette Reisebekanntschaften kennen und es bleibt auch noch genug Zeit für einen ausgedehnten Spaziergang durch Bergens Brygge und den Fischmarkt.
Nach einer ruhigen Überfahrt erreichen wir die Färöer für einen halbtägigen Zwischenstopp und während wir uns einfach in Tórshavn die Füße vertreten, absolvieren zwei deutsche Paare auf ihren 1200er GS ein Ausflugsprogramm, das für mehrere Tage gereicht hätte.
Eine Nacht später erreichen wir Island. Natürlich bedient Island alle Klischees, die der Reisende erwartet – es ist tatsächlich ein Land aus Feuer und Eis, Vulkanismus auf Schritt und Tritt quasi, und die Landschaft ist nicht nur von Naturgewalten gezeichnet sondern auch von Sagas, die zu Europas wertvollsten literarischen Überlieferungen zählen. Auch heute hat Island von kultureller Seite einiges zu bieten, und ist in jeder Hinsicht ein fortschrittliches Land: Island hatte zum Beispiel mit Vigdís Finnbogadóttir das erste gewählte weibliche Staatsoberhaupt der Welt und erst 2009 entstand die „Besti flokkurinn“ – die „Beste Partei“, gegründet von Kabarettisten, Künstlern und einer Hausfrau und mit dem erklärten Ziel, keine Versprechen zu halten und Gratisbademäntel in den öffentlichen Schwimmbädern bereit zu stellen. Die Partei zog nach der Reykjavíker Gemeinderatswahl mit fast 35 % der Stimmen ins Kommunalparlament ein und Jón Gnarr, Comedian und Gründer der Partei, wurde Bürgermeister von Reykjavík.
Viel ließe sich über die Literatur des Landes berichten, viel über seine Künstler, aber für den Reisenden interessant sind oft ganz essentielle Dinge: wie Essen. Berühmt und bei Kennern gefürchtet ist etwa „Hákarl“, Spezialität und Touristenschreck gleichermaßen. Es handelt sich hierbei um Eishai, der über keine Niere verfügt und seinen Harnstoff über die Haut ausscheidet. Entsprechend schmeckt er auch. Roh und frisch ist er ungenießbar, also wird er für ein paar Monate in Kisten eingegraben und danach luftgetrocknet. Er schmeckt zwar noch immer ungenießbar, als würde man Ammoniak in Reinform essen, gilt aber als Delikatesse und wird vor allem zu Weihnachten gern aufgetischt, nie ohne Brennivín, einem isländischen Branntwein, genannt „Der schwarze Tod“.
Zurück zur Reise: wir sind mittlerweile in Seyðisfjörður angekommen und können als Motorradfahrer an den Kolonnen von aufwendig dekorierten Pajeros, Land Cruisern, Defendern und Unimogs vorbeifahren.
Die erste Fahrt über die karge, von Flüssen zerschnittene Hochheide von Seyðisfjörður nach Egilsstaðir ist ein schöner Einstieg ins Land. Egilsstaðir wird klassischer Weise als Einkaufsstadt genutzt, denn es ist mit über 3500 Einwohnern die mit Abstand größte Stadt im Osten Islands. Auch wir versorgen uns mit dem nötigsten: Kaffee, Öl fürs Motorrad, etwas Proviant, und damit können wir den städtischen Luxus wieder für ein paar Tage verlassen und uns in Richtung Norden und Hochland auf den Weg machen. Kaum aus Egilsstaðir draußen läuft ein Rentier neben mir her, und nur hier, in Island, gibt es noch wildlebende Rentiere. Eigentlich wollte man sie züchten, die Isländer haben aber das Interesse an der Zucht verloren und seitdem leben die Tiere hier wild. Es gibt auch wildlebende Nerze. Man wollte sie als Pelztiere züchten, hatte das Interesse an ihnen verloren... Säugetiere gibt es nicht sehr viele auf der arktischen Insel, der Polarfuchs dürfte das einzige große Säugetier sein, dass vor dem Menschen hier angekommen ist. Island ist ein schieres Vogelparadies, und wer sich auch nur ein bisschen für Vogelbeobachtung interessiert, kommt hier definitiv auf seine Kosten: vor allem die riesigen Vogelklippen der Westfjorde sind jeden Sommer die steinerne Bühne für ein großartiges Schauspiel.
Die nächsten Tage verbringen wir im Norden, besuchen Touristenattraktionen wie das vulkanisch hochaktive Hochtemperaturgebiet der Krafla, den Myvatn, den „Mückensee“, der nicht ganz grundlos so heißt, und einige der zahlreichen berühmten Wasserfälle. Die erste Nacht verbringen wir am Rand des unbewohnten Hochlandes, mit Sicht auf den vergletscherten Tafelvulkan Herðubreið und auf Schlammquellen, und es wäre auch eine genial schöne Nacht geworden, wäre meine Isomatte nicht kaputt und würde Bernhard seine Matte nicht so vehement verteidigen. Sämtliche Eroberungsversuche schlagen fehl, den Bernhard lauscht nach Eisbären in der Dunkelheit.
Apropos Dunkelheit: zwei Tage später in Varmahlið verstaue ich gerade meine Ausrüstung am Motorrad ehe ich vor dem Schlafengehen noch einmal nach oben schaue und staune: der Himmel ist voller grüner tanzender Bänder: das erste Nordlicht des Jahres. Es ist absolut still, kein Wind, nur ein Himmel voller Sterne und ein Sturm aus Farbe über unserem Zelt.
Fast die gesamte nächste Woche verbringen wir in den Westfjorden, vor allem auf der Halbinsel Snæfellsnes, dem Zentrum der Elfen Islands und magischer Mittelpunkt der Erde, mit dem Gletscher Snæfellsnesjökull an der Spitze. Jules Verne ließ seine Mannschaft hier zum Mittelpunkt der Erde absteigen und an guten Tagen hat man vom Gletscher aus einen atemberaubenden Rundblick über die gesamte Halbinsel bis nach Reykjavík auf der einen, und bis zu den Steilklippen der Westjorde auf der anderen Seite.
Die folgende Fahrt nach Reykjavík wird ein Ritt durch den Sturm, die Enfields bekommen selbst beim Geradeausfahren so viel Schräglage, dass der Hauptständer fast am Boden streift.
Nach der Zeit in den ruhigen Westfjorden ist die Ankunft bei den Touristenattraktionen rund um Geysir, Gullfoss und Þingvellir fast ein Schock und wir machen uns schon ins Hochland auf, als uns erneut das Wetter übel mitspielt und wir gewzungener Maßen umkehren, denn im Sturm und Regen die Enfields über steinige Hochlandpisten zu schinden, ist kein Vergnügen, und den Temperaturen nach könnte es sogar ein Schneetreiben geben.
Wir bleiben also im Süden und fahren erstmal solange, bis Bernhard förmlich von seiner Enfield herunterfriert, ein Erste-Hilfe-Kaffee belebt ihn wieder, und auch meine Beine sind schon ganz schön taub und gehen mehr mit mir als ich mit ihnen. Wir erreichen den Skógarfoss, einen der berühmtesten und schönsten Wasserfälle Südislands, und da es schon so spät im Jahr ist, sind auch keine Touristen mehr hier. Wir zelten zwischen dem Wasserfall und einer gigantischen Pfütze im von Wasser gesättigten Gras, an der sich in der Nacht Wildgänse versammeln. Die Vogelzüge haben schon vor langem begonnen und es sind eigentlich nur noch die letzten Nachzügler, die sich erst jetzt auf den Weg nach Süden machen. Vögel, die in ein bis zwei Wochen noch hier sind, werden den Weg nie antreten. Immer wieder kann man in der Abenddämmerung Gänse im vollendeten Formationsflug am Himmel beobachten, und selbst in der Dunkelheit hört man noch ihre Rufe und das Flügelrauschen. Die schwarzen Fjorde sind jetzt weiß von hunderten Singschwänen.
Zwei Tage dauert es, bis wir den größten Gletscher Europas, den Vatnajökull, passiert haben. Einen ganzen Tag allein dauert die Fahrt durch die Sanderflächen des Südens, und in der Dunkelheit erreichen wir völlig durchgefroren den Nationalpark Skaftafell, wo wir unser Zelt erneut unter einem Nordlichthimmel aufschlagen. Die Landschaft ist hier tatsächlich von Feuer und Eis geformt. Vulkane unter dem Vatnajökull haben immer wieder Gletscherläufe verursacht: gigantische Flutwellen die entstehen, wenn Eis auf Grund der subglazialen Vulkane rasch auftaut, und die alles mit sich reißen. Die größte Flut jüngster Vergangenheit ereignete sich 1996 und die geborstenen und verbogenen Brückenpfeiler der Ringstraße, der einzigen Verkehrsverbindung von Ost nach West, sind heute noch zu sehen.
Der nächste Tag bringt uns dann zu einem der fotogensten Orte Islands: zu den Gletscherlagunen des Breidamerjökuls, wo der Gletscher direkt in mehrere Seen kalbt und wo die in allen Blau- und Grauschattierungen schimmernden Eisberge dann langsam abschmelzen und schließlich in Richtung Meer treiben.
Die Weiterfahrt nach Höfn wird mehr zu einer Leidensfahrt und wir erfahren wieder einmal die ganze Palette des isländischen Schlechtwetters, dabei ist Höfn eine schöne Stadt.
In Djúpivógur haben wir uns ein Bad in einem Hot Pot gegönnt, jedoch ist seitdem nun auch meine rechte Socke nass nachdem ich eine riesige Wasserlacke am Boden übersehen habe. Mein letztes Stück Trockenheit ist damit Geschichte.
An den folgenden Tagen erkunden wir noch die Ostfjorde. Als purer Wahnsinn erscheint vor allem das riesige Alcoa Aluminiumwerk in Reydarfjörður, dessen Arbeiter in einer Art Ghetto außerhalb der Stadt wohnen. Die Energie für dieses Werk liefert das umstrittene 690 MW Kraftwerk Kárahnjúkar, das in einem der einzig unberührten Gebiete im Hochland Islands errichtet wurde und das massiv in die Natur eingegriffen hat. Auch eine Reihe politischer Skandale drehte sich um den Bau und bis heute wurde der Preis, den Alcoa pro Kilowattstunde Strom an den Kraftwerksbetreiber Landsvirkjún bezahlen muss, nicht bekannt gegeben. Proteste von Künstlern, Politikern, Wissenschaftern und von zahlreichen Isländern konnten den Bau nicht verhindern. Die Gründung einer mitte-rechts-grünen Partei konnte ihn nicht stoppen.
Eigentlich wollten wir vor Abfahrt der Fähre noch einmal ins Hochland fahren, um uns das Kárahnjúkar Kraftwerk nach Fertigstellung anzusehen. Die schicksalshafte Entscheidung, vorher noch einen Ölwechsel in Egilsstaðir zu machen, bewahrt uns vor einem unfreiwillig längeren Aufenthalt auf Island, denn in Egilsstaðir erfahren wir zufällig, dass unsere Fähre auf Grund eines heftigen Atlantiksturmtiefs zwei Tage früher als geplant ablegen wird. Es bleibt also gerade noch genug Zeit um Proviant für die Überfahrt zu besorgen, ehe wir uns auf den Weg zurück nach Seyðisfjörður machen müssen – nicht ohne vorher die letzten Kronen für einen Rentierhamburger ausgegeben zu haben.
Ein schwaches Nordlicht verabschiedet uns in eine mehr als kurze Nacht, ehe noch in der Dämmerung des Morgens die Norröna im schmalen Fjord erscheint und uns weg von Island und wieder einmal zu den Färöern bringt, auf denen uns nichts anderes zu tun bleibt als uns mit windigen Touren durch die Färöische Bergwelt die Zeit zu vertreiben und das Sturmtief abzuwettern, ehe die Schiffspassage nach Dänemark fortgesetzt werden kann. Die Seegangskarten zeigen während der gesamten Überfahrt lila, was Wellen zwischen acht und zehn Metern bedeutet.
Es war nicht die letzte Islandreise. Zwei Jahre später werden eine weiße Ténéré und eine blaue BMW fertig beladen und geduldig unsere Hochzeit abwarten, ehe wir unsere erste gemeinsame Reise als Ehepaar wieder nach Island antreten werden. Wir werden wieder über den Pass von Seyðisfjörður nach Egilsstaðir fahren, dort Kaffee und Proviant kaufen und dann diesmal mit den Enduros vor allem die Schotterpisten Islands erleben. Bei bestem Wetter – unser schönstes Hochzeitsgeschenk. Und wir werden zurückdenken an die Zeit hier mit den beiden tapferen Enfields und uns nach einer besonders argen Schlaglochfahrt mit der Ténéré wundern, wie wir hier auf der alten englisch-indischen Dame überhaupt fahren konnten, so ganz ohne Federweg und bremsenden Bremsen. Und die Erklärung ist einfach: mit viel Liebe.
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